Bildungsmisere? - Gesellschaftsdebakel!

Dieser Artikel erschien 2001 in der Fachschaftszeitschrift Einstein

Die Pisa-Studie hat mal wieder die Behauptung wach gerufen, dass unsere LehrerInnen und das Schulsystem so schlecht wären. Sicherlich hat das Schulsystem einige Schwächen, wie die oft geringe Förderung von begabten Schülern. Doch die großen Unterschiede zwischen den betrachteten Ländern liegen nicht im Schulsystem - sie liegen in den Gesellschaften. Und so tragen die Schuld an dem schlechten Abschneiden nicht nur die Lehrer oder das Schulsystem: Verantwortlich für dieses Desaster sind viel mehr die Medien, die Eltern und die Gesellschaft; sich auf das Schulsystem einzuschießen, und es zum zentralen Wahlkampfthema zu machen - wie es derzeit die FDP machen will - ist blauäugig und reiner Stimmenfang.

Ergebnisse der Pisa-Studie

Die Pisa-Studie liefert Hinweise, dass deutsche Schüler die ihnen gegebenen Texte schlechter reflektieren und bewerten können, wobei die Streuung der Leistungen in Deutschland sehr hoch ist: so haben fast 9% der Schüler die höchste Kompetenzstufe erreicht; aber 10% nicht einmal die niedrigste, 13% nur die erste Stufe. Die deutschen Schüler lesen nicht zum Vergnügen; im Gegenteil wird das Lesen als Last empfunden.

Ähnlich ungünstig ist das Bild im mathematischen Bereich und bei den Naturwissenschaften: nur eine kleine Gruppe hat die höchste Kompetenz-Stufe erreicht, ein Viertel ist im kritischen Bereich unterhalb der zweiten Stufe.

Reaktionen in den Medien und der Öffentlichkeit

Ebenso wie bei der TIMSS Studie, taucht auch zur PISA Studie Kritik auf, die Schwächen in den Tests findet; ohne Zweifel lässt der harte Drill in manchen Ländern diese sehr gut abschneiden, ohne ein erstrebenswertes Vorbild darzustellen. Doch all diese Kritik übersieht den entscheidenden Punkt: das Problem ist - und war schon da, ob die Studie jetzt “fair” ist oder nicht. Das Problem ist schon seit Jahren bekannt, in denen die Lehrer über mangelndes Interesse der Schüler und sinkende Leistungen klagen.

In den Medien und der Öffentlichkeit wird die Studie des weiteren falsch interpretiert: es wird hier weniger das Schulsystem direkt bewertet: die Studie befasst sich intensiv mit den Zusammenhängen und Einflüssen, welche die Ergebnisse hervorrufen. Warum greifen jetzt die Medien beim Schulsystem an, wo doch die gesamte Gesellschaft hier eine entscheidende Rolle spielt?

Natürlich kann es wünschenswert sein, sofern die nötigen Finanzen und Lehrkräfte zur Verfügung gestellt werden können, den Unterricht von dem derzeit bestehenden Frontalunterricht auf einen schülerorientierten Unterricht umzustellen, um so schwache ebenso wie starke Schüler stärker fördern zu können; zuvor muss aber erst ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden, sonst ist dies hinausgeworfenes Geld; ebenso kann sich unser derzeitiges Schulsystem als wesentlich “besser” erweisen, als es derzeit dargestellt wird. Wahrscheinlich ist es bei den derzeitigen Klassengrößen sogar die praktikabelste Lösung.

Wer ist verantwortlich?

Wie schon angesprochen liegt die Verantwortung keineswegs nur bei den Lehrern und dem Schulsystem, sondern in der Gesellschaft - dazu gehören vor allem auch die Medien und die Eltern.

Verantwortung der Medien

Die Medien dürfen sich ihrer Verantwortung nicht entziehen: Sie haben erheblichen Einfluss auf die Interessen und Hobbies der Kinder und Schüler - insbesondere derer, die Förderung brauchen. Gerade Kinder sind nicht unbedingt in der Lage, die ihnen von den Medien “vorgesetzten” Informationen kritisch und “mündig” zu hinterfragen.

Einige Jugendliche verbringen einen großen Teil ihres Tages vor dem Fernseher, am Radio und mit Zeitschriften; regelmäßig wird ihnen hier - indirekt durch Anspruchslosigkeit in Fernseh- und Radiosendungen, und direkt durch Äußerungen wie “in der Schule war ich auch immer schlecht”, “Mathe, das braucht man doch nie wieder” - signalisiert, dass das Lernen und die Schule “Zeitverschwendung” seien. Statt dessen wird ihnen in Soaps, Musiksendungen und Actionfilmen eine falsche Realität vorgespielt, mit dem Fazit, das einzig Entscheidende im Leben sei es, “fun” zu haben und zu konsumieren.

Warum spielen sportliche Wettkämpfe eine wichtige Rolle im täglichen Fernsehprogramm; warum gibt es aber kaum vergleichbare sprachlich oder mathematisch-naturwissenschaftlich anspruchsvolle Sendungen? Die meisten werden über das Interesse der Zuschauer argumentieren - aber das Interesse der Zuschauer ist lenkbar.

Vielleicht haben aber die Medien bereits dies erkannt - und Verbesserungen in Form des aktuellen Quizshow-Booms eingeleitet, die zwar kein wichtiges Wissen vermitteln, aber immerhin den Anreiz schaffen, sich mit dem Lernen zu beschäftigen.

Bei den wenigen großen Medienkonzernen (insbesondere im Fernsehbereich sind ja fast nur Bertelsmann, Kirch und die Öffentlich-Rechtlichen groß vertreten) muss hier eine Allianz zur Förderung der Kinder entstehen. Mit kleinen Änderungen am bestehenden Programm wird sich dann schon viel erreichen lassen. Die Öffentlich-Rechtlichen bieten auch bereits sehr gute Sendungen für Kinder an.

Verantwortung der Gesellschaft und Eltern

Die sozial bedingten Unterschiede bei der Lesekompetenz sind in Deutschland am Größten; selbst die USA, wo die sozialen Unterschiede wesentlich größer sind, weisen hier geringere Unterschiede auf. Andere Länder schaffen es, bei ähnlicher Sozialstruktur, diesen Einfluss massiv zu reduzieren - durch eine starke Förderung von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Schichten; dies wird keineswegs auf Kosten der Leistungsstarken gehen, im Gegenteil, auch diese werden davon profitieren.

Ebenso klagen viele Lehrer, dass die Erziehung der Kinder von den Eltern auf die Schule abgewälzt wird; diese können und sollen jedoch die Erziehung durch die Eltern nicht ersetzen, sondern ergänzen. Der steigende Anteil von Alleinerziehenden und doppelverdienenden Haushalten macht sich hier sicher bemerkbar, aber auch das niveaulose Ablenkungsprogramm das den Eltern im Fernsehen geboten wird, so dass sich diese auch weniger um ihre Kinder kümmern mögen. So bemerkt man eine immer Kinder-unfreundlichere Einstellung in Deutschland.

Während in anderen Kulturen die Erziehung der Kinder die wichtigste Aufgabe ist und sich Kinder frei entwickeln können, herrscht hier oft der Wunsch nach “pflegeleichten” Kindern, die sich selbst beschäftigen, ruhig sind und Eltern und Nachbarn nicht stören.

Lösungswege für die Bildungsmisere

Die Wurzeln der Bildungsmisere stecken tief; der Weg wird lang und schwer werden und ist eine der größten Herausforderungen an die Politik. Hier ist ein tiefgehendes Aktionsprogramm notwendig, das:

  • Sozial schwache Gruppen bildungspolitisch unterstützt, insbesondere durch Sprachförderung. So wären kostenlos oder gefördert angebotene Sprachkurse für alle Zuwanderer wichtig; die Kosten muss uns die bessere Integration unserer neuen Bürger wert sein! Dann wäre es sogar denkbar, die Aufenthaltserlaubnis an Deutsch-Kenntnisse zu koppeln, beispielsweise einen bestimmten Leistungsnachweis zu erbringen oder so lange entsprechende Kurse zu besuchen bis der Nachweis erbracht werden kann.
  • Stärkere Unterstützung von Alleinerziehenden und verstärkter staatlicher Anreiz, beispielsweise nur Teilzeit zu arbeiten, um sich besser um die Kinder kümmern zu können; finanzielle Unterstützung zur Tagesbetreuung der Kinder durch Horte.
  • Gegebenenfalls für Doppelverdiener die Pflicht eines Hortes oder Ähnlichem, damit die Kinder nicht alleine sind.
  • Weitreichendere Sicherstellung der Möglichkeit eines Wiedereintritts in den Beruf nach einer den Kindern zugute kommenden Pause.
  • “Ein Herz für Kinder”-Kampagnen: die freie Entwicklung der Kinder ist eines der höchsten Güter die wir haben. Es ist schlimm dass es oft Ärger wegen “Lärmbelästigung” durch Kinder gibt. Es gehört zum Spielen und zur Persönlichkeitsentwicklung dazu, auch öfters mal Lärm zu machen. Diese Kinder werden später die Renten bezahlen müssen.

In den Medien ließen sich beispielsweise folgende Verbesserungen vornehmen:

  • Anspruchsvollere Texte in Soap-Serien: auch Soap-Figuren können mal kurz über ein Buch diskutieren oder über aktuelle Politik,
  • Anspruchsvollere Themen bei Talkshows,
  • Quizshows weiterentwickeln zu richtigen Rätselsendungen,
  • Weniger Action-Comicserien, mehr Sendung mit der Maus

Es ist wichtig, dass in den Medien die Ethik entsteht, mündige Konsumenten zu erziehen, nicht willenlos Konsumierende. Der Druck auf die Medien, ihr Programm derart zu verbessern, können letztlich nur die Werbekunden ausüben. Und so spielt hier letztlich auch die Wirtschaft eine wichtige Rolle.

von Erich Schubert

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